Igor Levit – ein Lichtstrahl zum Sonnenuntergang

Gastbeitrag von unserer Leserin Freigeistin vom Lande

Jeden Abend um 19 Uhr spielt in diesen düsteren Corona-Zeiten der humanistische Weltpianist Igor Levit in seinem Berliner Zuhause das Piano. Von Beethoven über Robert Schumann bis hin zu dem mir bisher unbekannten Schostakowitsch erklingen nun auch in heimischen Wohnzimmern über Laptops oder Smartphones Levits Konzerte, die einen kosmopolitischen Lichtstrahl in unsere provinziellen Heime lenken.

Igor Levit, Professor der Musik, der normalerweise zwischen Carnegie Hall und Royal Albert Hall und auch auf allen anderen Konzertbühnen dieser Welt unterwegs ist, ist wegen Corona gezwungen zu Hause zu bleiben und kam auf die geniale Idee, jeden Abend über Twitter jedem Normalsterblichen sein Klavierkonzert zuteil werden zu lassen.

Die ich mit einem natürlichen Misstrauen gegenüber sozialen Medien aufgewachsen bin, und die ich mich in der Schulzeit durch Orwells Animal Farm und Huxleys Brave New World quälen musste, bin derzeit doppelten Schockzuständen ausgesetzt. Zum einem sind meine gewohnten Sozialformen innerhalb meines Bekanntenkreises und Kollegiums weggebrochen. Zum anderen boykottiere ich halsstarrig soziale Medien wie Facebook und Twitter.

Aber ich liebe klassische Musik, obwohl ich keine Ahnung davon habe. Igor Levit hat das Wunder vollbracht, mir klassische Musik ins Wohnzimmer zu liefern und noch geduldig erst auf Deutsch und dann auf Englisch zu erklären, worum es in dem Stück oder der Fantasie geht. Wagemutig gebe ich deshalb täglich im von mir eigentlich ungeliebten Internet Igor Levit Twitter ein, und komme zumeist auch auf das aktuelle Standbild von Igor Levits Wohnzimmer (?), drücke irgendwie auf die Playtaste, und schon geht es los.

Der Pianist kruschelt noch von der Handykamera ungesehen herum, nimmt Platz, sammelt sich und erklärt, wie es einem Genie gebührt, in einfachen Worten mir Voll-Laien, worum es in Robert Schumanns Großer Fantasie in C-Dur geht. Nicht minder genial das Konzert selbst, wobei ich mich entweder fasziniert seiner Körperhaltung widme, wie er fast in das Klavier hineinkriecht, um sich langsam wieder aufzurichten, um dann sogar stellenweise vom Klavierhocker aufzuspringen.

Ich frage mich dann, spielt er das alles auswendig, oder schimmern da bläulich digital Noten? Manchmal schaue ich aber auch zum Fenster und lasse meinen Gedanken ihren Lauf. Abhängig von dem gewählten Stück sind die gedanklichen Höhen und Tiefen sehr weit gestreut. Da, und plötzlich ist das Wohnzimmerkonzert zu Ende und ich fühle mich getröstet und gleichzeitig erleuchtet von diesem außergewöhnlichen Menschen!

2 Kommentare

  1. Das Verbindende der Musik ist gegenwärtig überdeutlich und da schadet es nicht, sich mit Social Media zu befassen. Ganz nach Gusto liefert YouTube frei Haus eine unvorstellbare Menge an Musikstücken und sogar ganzen Konzerten. Die Vorbehalte der Autorin bspw. Facebook und Twitter gegenüber sind, der Not gehorchend, ein wenig weggebröckelt. Bei allen Bedenken den Datensammlern in Amerika gegenüber, die diese in die Lage versetzen, Persönlichkeitsbilder zu erstellen, schreckt mich das gerade jetzt nicht ab. Ich möchte den Austausch unter Gleichgesinnten nicht missen und schätze den meist freundlichen und wertschätzenden Umgang mit Menschen, die zum Teil bereits Freunde geworden sind, in den von mir administrierten Facebookgruppen sehr. Mit diesen die gemeinsame Leidenschaft für Hellas zu pflegen ist mir gerade jetzt sehr wichtig. Orwell ist schon lange Schnee von vorgestern. Also, liebe Freigeistin vom Lande: Auch für dich fände sich etwas gegen den Lagerkoller! Nur Mut, der Anfang ist gemacht!

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