Das System ist immer schuld, oder?

Niemand mag kollektive Schuldzuweisung, erst recht nicht, wenn er selbst beschuldigt wird. Doch ist nicht jeder Profiteur eines Unrechts(systems) moralisch verpflichtet, entweder das Unrecht zu lindern oder auf seinen persönlichen Vorteil zu verzichten?

In ihrer Buchbesprechung „Frauen gehören erst dem Vater, dann dem Mann?“ aus der FAZ vom 7. April 2018 (S. 12) zitiert Julia Bähr eine hochinteressante Erkenntnis der Autorin Sandra Konrad, deren Buch „Das beherrschte Geschlecht“ unter anderem über den bizarren US-amerikanischen Brauch der „Purity balls“ berichtet, bei denen Töchter ihren Vätern Jungfräulichkeit bis zur Ehe geloben. (Auf diesem Tiefpunkt an Chauvinismus, den ich bis gestern einer Machogesellschaft von der Sorte, die Mädchen nicht zur Schule gehen lässt, zugeordnet hätte, könnte der Titel von Bährs Besprechung beruhen.)

Doch zur Sache: Bähr schreibt, die Autorin Konrad biete „eine gute Erklärung, warum manche Männer so empfindlich reagieren, wenn sie auf patriarchale Gesellschaftsstrukturen aufmerksam gemacht werden.“ Denn wer die Macht habe, ohne sie an sich gerissen zu haben, möchte nicht dafür kritisiert werden. Naja. Hmmm. Ist so. Aber ist es ok?

Soweit, so schlecht. Aber wie verhält es sich mit anderen Systemfehlern?

Ich habe mich schon oft gefragt, warum ich nur wegen meiner Staatsangehörigkeit mitverantwortlich gemacht werde für bspw. die historische Versklavung fremder Völker, koloniale Ausbeutung und Plastikberge auf den Ozeanen. Für alle diese Mißstände gab oder gibt es eindeutig ermittelbare Wirtschaftsbeteiligte, die Geld eingestrichen haben für bestimmte Leistungen: Die Sklavenverkäufer in Afrika, die Sklavenhändler, die Plantagenbesitzer, heute die Entsorgungsunternehmen und ihre Geschäftspartner. Wir lassen uns zu oft einreden, irgendein „System“ sei falsch, dessen Teil wir sind, anstatt dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen würden. Wir können heute vielleicht nicht mehr die Schuldigen am „Golden Triangle“ des Sklavenhandels haftbar machen, aber durchaus die Entsorgungsunternehmen, die deutschen Plastikmüll unter zwielichtigen Umständen ins Ausland verschoben haben, damit er von dort in die Ozeane gelangt.

Der Unterschied zum obersten Beispiel: Wer von einem Unrecht persönlich profitiert, muss tätig werden, selbst wenn er das Unrecht nicht initiiert hat. Das gebieten jedenfalls Anstand und Moral.

Wer stattdessen unter der Kollektivierung von Verantwortung und Kosten leidet, darf sehr wohl auf die Verurteilung und Haftung der Verursacher und Profiteure des Unrechts pochen.

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